„Eine Schule in unserer Lage kann ohne Teamgeist nicht überleben“

„Eine Schule in unserer Lage kann ohne Teamgeist nicht überleben“

An jedem Ort in dieser Schule kann man lernen. Die Stufen der Treppen sind mit Zahlen geschmückt, an den Wänden begleiten uns Buchstaben. In den Buchstaben befinden sich kleine Pfeile, damit man auch sehen kann, wie man mit dem M oder P anfängt. Wir sind an der Grundschule Hochfelder Markt – einer Schule im Brennpunkt mit vielen Herausforderungen. Hier gehen Kinder aus 38 Nationen zur Schule. Circa 80 Prozent der Familien beziehen Leistungen nach dem zweiten Sozialgesetzbuch. Trotz dieser Umstände erleben wir hier eine Schulleitung und ein Team vor Ort, die versuchen, das Beste aus ihrer Lage für die Kinder und Familien herauszuholen. Aus dem Keller kommt Gemurmel. Hier findet heute das Frühstück im Eltern-Café statt. Viele Eltern sind gekommen. Mädchen und Jungen mit großen Obstkisten in den Händen kommen an uns vorbei und verteilen das Obst in den Klassen. Dann sind da noch Oscar und Ziva, die Schulhunde. In manchen Klassenräumen steht ein kleines Zirkuszelt, das mit einer Decke abgedunkelt ist. Wenn Kinder eine Auszeit brauchen, kriechen sie in das Zelt und mitunter kommt Oscar hinzu und die Kinder kommen zur Ruhe. Den Lehrkräftemangel spürt Schulleiterin Jennifer Poschen auch. Aber das Jammern hilft nicht. Neue Lehrerinnen und Lehrer werden nicht vom Himmel fallen. Deshalb setzt sie die Lehrkräfte, die sie hat, für den Unterricht ein und hat ein großes Unterstützungssystem von Ehrenamtlichen und Kurzzeitbeschäftigten aufgebaut, damit diese die Kinder ebenfalls unterstützen. Viele von ihnen sind ehemalige Eltern. Wir haben mit Schulleiterin Jennifer Poschen über ihre eigene Motivation gesprochen, die zwischenzeitliche Leitung von zwei Grundschulen, ein Team, das an einem Strang zieht und die Philosophie: Love it or leave it.

Liebe Frau Poschen, Sie sind seit 13 Jahren an der Grundschule Hochfelder Markt. Immer schon als Schulleitung?

Jennifer Poschen: Vor 13 Jahren habe ich als Konrektorin hier angefangen und habe meine Rektoren-Prüfung dann später gemacht. Ich war nach meinem Referendariat arbeitssuchend. Im Schulamt in Duisburg wurde mir damals Folgendes gesagt: „Frau Blettgen (Mädchenname), tut uns leid. Sie kommen zum Hochfelder Markt!“. Meine Reaktion: „Das braucht Ihnen gar nicht leidtun“. Meine Familie kommt von hier. Von daher kannte ich den Stadtteil und wusste, dass er mir liegt. Das Kollegium hat mich mit offenen Armen aufgenommen. Ich fühlte mich in Gebäude und Umgebung wohl und habe damals als Vertretungskraft eine 4. Klasse zu Ende geführt. Anschließend hatte ich noch Stationen an vielen anderen Schulen in Mülheim. Die Schule in Hochfeld hatte ich aber immer im Hinterkopf. Als die Konrektoren-Stelle dann ausgeschrieben war, habe ich zugeschlagen. Ich bin gekommen und geblieben. Vor neun Jahren habe ich dann die Stelle der Schulleitung angenommen.

Es geht teilweise um die nackte Existenz der Familien; um Menschen, die einen riesigen Rucksack an Gepäck aus der Vergangenheit mit sich herumschleppen. Wir brauchen mitunter 8 bis 10 Jahre, um an eine Familie heranzukommen und zu sehen: Jetzt nehmen sie die Schule wahr.
Jennifer Poschen
Was hat Sie damals bewogen, den Weg der Konrektorin und Rektorin einzuschlagen?

Poschen: Ich komme aus einer Lehrer-Familie. Für mich war früh klar, dass ich Lehrerin werden möchte. Gleichzeitig wusste ich, dass mein Weg als Lehrerin noch nicht zu Ende ist. Schon damals hat mich die Verwaltungstätigkeit gereizt und als Schulleitung kann man zur Entwicklung der Schule beitragen. Ich war selbst kein glückliches Schulkind. Mir wurde im Gymnasium attestiert, dass ich nicht intelligent genug sei. Ich musste das Gymnasium verlassen, in die Realschule wechseln und die neunte Klasse ganz klassisch wiederholen. Anschließend habe ich ein super Abitur und Studium absolviert und wurde mit 30 Jahren Konrektorin. Das war ein Novum zur damaligen Zeit. Aus diesen Erfahrungen ist die Hoffnung und das Gefühl erwachsen, dass Schule auch anders sein kann. Als ich dann in Elternzeit war, ist die Schulleitungsstelle frei geworden. Da stand ich – mit Kollegium und Baby – und habe gesagt: Wenn ich den Bumms schon machen muss, dann als Rektorin. Anfangs war ich alleine. Als dann Frau Stockhorst als Konrektorin hinzukam, hat unsere Reise mit dieser zentralen Frage begonnen: Wie können wir uns mit diesem super Team und den Eltern bestmöglich aufstellen, um den Kindern die besten Chancen zu ermöglichen?

Was unterscheidet aus Ihrer Sicht die Leitung einer Schule im Brennpunkt und einer Schule in einer privilegierten Lage? Welche Unterschiede gibt es und welche Eigenschaften braucht man?

Poschen: Das sind zwei Welten. Die Arbeit im sozialen Brennpunkt muss einem menschlich liegen. Für diese Schulstandorte gilt: Love it or leave it. Du kannst es nicht ein bisschen wollen und mögen. Wenn du bereit bist, diese Arbeit aus deinem tiefsten Inneren zu tun, dann kann sie dich sehr glücklich machen. Wir haben viele Herausforderungen, aber andere als privilegierte Standorte. Die Wohlstandsverwahrlosung von Kindern ist etwas, was mich kaputt machen würde. Wenn ich sehe: Ihr habt alles. Warum könnt ihr euch verdammt noch mal nicht mit Liebe um eure Kinder kümmern? Oder die Haltung von manchen Eltern: Lehrkräften und Schule wird das Leben schwer gemacht, damit das Kind im Diktat einen halben Fehler weniger bekommt. Lehrkraft und Schule werden zum Feindbild. Hier bei uns ist es einfach ein Miteinander mit anderen Problemlagen. Es geht teilweise um die nackte Existenz der Familien; um Menschen, die einen riesigen Rucksack an Gepäck aus der Vergangenheit mit sich herumschleppen. Wir brauchen mitunter 8 bis 10 Jahre, um an eine Familie heranzukommen und zu sehen: Jetzt nehmen sie die Schule wahr. Sie bekommen ein Gefühl dafür, dass Bildung etwas Wichtiges ist. Durch die Arbeit in einem Stadtteil wie Hochfeld entwickelt man eine ganz andere Haltung und Denkweise gegenüber Menschen.

 

Eine Schule in unserer Lage kann ohne Teamgeist nicht überleben. Wenn jeder seine eigene Suppe kocht, geht das Team kaputt.
Jennifer Poschen
Sie haben die Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert sind, kurz angerissen. Dann haben Sie für einen gewissen Zeitraum noch die Leitung für eine zweite Grundschule mit ähnlich großen Herausforderungen übernommen. Warum?

Poschen: Das war eine rationale Entscheidung. So wie Lehrermangel in Duisburg herrscht, herrscht auch Schulleitungsmangel. Der Erlass sieht einfach vor: Wenn nicht eine ausreichende Anzahl an Schulleitungen vorhanden ist, müssen erfahrene Leitungen mehrere Systeme führen. Man kann sich dann ausrechnen, wann man an der Reihe ist. Dann ist die Stelle der Schulleitung in der Nachbarschule vakant geworden. Dieses System hier ist gut aufgestellt und kann sich in weitesten Teilen selbst führen. Der Zeitpunkt war also günstig. Die andere Schule ist 900 Meter entfernt und nicht auf der anderen Seite der Stadt. Ich kenne die Klientel. Es war eine Herausforderung, aber ich habe es auch als Möglichkeit gesehen, mich weiterzuentwickeln.

Als Sie beide Systeme geleitet haben: Wie haben Sie den Alltag organisiert?

Poschen: Ich habe im Vorfeld überlegt, welche Strukturen ich brauche. In den Sommerferien mache ich die Jahresplanung für das nächste Schuljahr. Den Prozess habe ich auf das zweite System übertragen und geschaut, dass ich zentrale Termine an beiden Standorten wahrnehmen kann – z.B. die erste Konferenz. Für diese erste Konferenz haben wir einen großen Reader, in dem alle Bereiche für das Schuljahr aufgedröselt sind. Offiziell hat man maximal zehn Stunden pro Woche für die Leitung der zweiten Schule. Es gab feste Tage pro Woche, die ich entweder an der einen oder anderen Schule verbracht habe und es gab Tage, an denen ich mich flexibel an den Bedarfen orientiert habe. Die Umsetzung hat funktioniert, war aber natürlich sehr stressig. Hinzu kam der Faktor Mensch. Die andere Schule war eine Schule, die schon seit fünf Jahren eine Schulleitung im Krankenstand hatte und bis zu diesem Zeitpunkt kommissarisch von einer Kollegin aus dem Team geleitet wurde. Dann wurde eine Lehrerin für ein Jahr an diese Schule abgeordnet und hat sich entschieden, die Konrektoren-Prüfung abzulegen. Ich habe sie dabei begleitet und sie hat das System mit mir als Mentorin übernommen. Ich war an einem Punkt angekommen, an dem ich gemerkt habe, dass ich die Doppelbelastung nicht mehr aushalte. Die neue Kollegin hat die kommissarische Leitung übernommen und kann mich, vor allem bei Rechtsfragen, anrufen. Natürlich kann sie bei mir auch ihren Ballast abwerfen.

Die Wübben Stiftung Bildung hat eine Umfrage unter Schulen im Brennpunkt durchgeführt und der Schulleitungsmonitor Deutschland wird in diesen Tagen veröffentlicht. Da ist eine Zahl besonders spannend. Es geben mehr Schulleitungen im Brennpunkt an, dass sie nicht daran denken, ihre Schule zu verlassen, während die repräsentative Zahl in ganz Deutschland viel höher ist. Wie erklären Sie sich das?

Poschen: Ganz platt gesagt: Scheiße verbindet. Das trifft es natürlich nicht. Denn hier ist es alles anderes als Scheiße. Aber es lässt sich übertragen: Herausfordernde Situationen verbinden und schweißen ein Team zusammen. Die Stärke von vielen Brennpunktschulen ist es, zu erkennen: Wenn wir nicht grundlegend umdenken, gehen wir unter. Daraus entwickelt sich eine große lösungsorientierte Kompetenz. Ich bin eine große Befürworterin von Lösungsorientierung gegenüber Problemorientierung. So kommt ein Team aus diesem Jammertal raus und der Fokus verändert sich. Und wenn ein Team einmal zusammengeschweißt ist, dann hat man erstmal gewonnen. Eine Schule in unserer Lage kann ohne Teamgeist nicht überleben. Wenn jeder seine eigene Suppe kocht, geht das Team kaputt. Wenn man sich gegenseitig pickt, sein Türchen hinter sich zumacht und den anderen bloß nicht abgucken lässt, dann geht unfassbar viel Energie verloren. Funktioniert aber das Team, dann teilt es auch die Probleme und Herausforderungen und entwickelt gemeinsam Ideen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person

Jennifer Poschen leitet seit 2014 die Gemeinschaftsgrundschule Hochfelder Markt in Duisburg. Sie war eine von 25 Schulleitungen, die am Programm „impakt schulleitung digital“ teilgenommen haben, das die Wübben Stiftung Bildung gemeinsam mit der Bezirksregierung Düsseldorf durchgeführt hat.

Jennifer Poschen

Teilen:

Facebook
Twitter
LinkedIn
WhatsApp